Artikel aus der NZZ 01/2012
Autor: Dr. Jürgen Tietz
Mehr als Barock
Architektur zwischen Geschichte und Moderne in Dresden
Am Neumarkt in Dresden streiten sich Befürworter moderner Architektur und Traditionalisten.
Dabei bedrohen die Neubauten im historischen Gewand zunehmend die historischen Zeugnisse der Nachkriegsmoderne. Gleichzeitig liegen weite Bereiche rund um die Dresdner Innenstadt seit Jahren brach.
In keiner anderen deutschen Stadt prallen seit Jahren Geschichte und Gegenwart so vehement aufeinander wie in Dresden, wo in den Quartieren rund um den Neumarkt eine neue Traditionsinsel entsteht.
Nicht immer ist für den Betrachter auf den ersten Blick zu erkennen: Was ist modern und was historisch? Tarnen sich doch die Neubauten mit dem Gewand des Historischen “ und lassen benachbarte Bauten der Moderne alt aussehen. Dabei gibt es in der sächsischen Landeshauptstadt durchaus qualitätvolle zeitgenössische Architektur, nur eben nicht rund um die Frauenkirche.
Die wunderbare Synagoge von Wandel, Höfer, Lorch und Hirsch oder der neue Konzertsaal der Musikhochschule Carl Maria von Weber der Stuttgarter Architekten Markus Hammes und Nils Krause liegen am Rand des Stadtzentrums. Und noch weiter ist es bis zum jüngst eröffneten Militärhistorischen Museum von Daniel Libeskind jenseits der Elbe.
Am Beispiel der vor zehn Jahren eröffneten neuen Synagoge bemüht sich derzeit der Dresdner Verein «Zeitgenossen» darum, Qualitäten und Potenziale zeitgenössischer Architektur in der Öffentlichkeit zu vermitteln.
Getreu einem Leitspruch des Ahnherrn der deutschen Denkmalpflege, Georg Dehio, dass «Scheinaltertümer hinstellen weder wahre Kunst noch wahre Denkmalpflege» sei, haben die «Zeitgenossen» ein eigenes Manifest formuliert.
Mit ihm streben sie einen differenzierten Blick auf die Dresdner Rekonstruktionseuphorie an – verschliessen aber auch nicht den Blick vor den Defiziten zeitgenössischer Architektur. Ist doch auch Dresden nach 1990 nicht von mittelmässiger Massenware verschont geblieben. Auf ihrer Website verweisen die «Zeitgenossen» darauf, dass «viele heute umjubelte Gebäude in ihrer Entstehungszeit umstrittene Neubauten» waren, was bekanntlich auch für die aufwendig rekonstruierte Frauenkirche von George Bähr galt. Inzwischen sehen sie das baukulturelle Miteinander an der Elbe gefährdet: «Gegenwärtig dominiert eine Diskussionskultur, die die Fortschreibung des baukulturellen Erbes als Geschichtsverrat verhöhnt. Gegenwart und Zukunft werden zum Feind eines zum Ideal verklärten Architekturkanons, der sich im Wesentlichen am Barock orientiert.»
Der Stadtumbau und -neubau nach der deutschen Wiedervereinigung zeigt, wie sehr die Dresdner bis heute an einem doppelten Trauma leiden: an der Zerstörung ihrer Innenstadt durch die Bombenangriffe vom 13. und 14. Februar 1945 – und an den Schwierigkeiten, dieses Trauma zu überwinden. Die Konsequenz ist eine multiple Stadtpersönlichkeit, die recht eigentlich ein Fall für die Couch eines Stadtanalytikers wäre. Als heilendes Pflaster hatte man sich nach 1990 den Wiederaufbau der Frauenkirche samt der umgebenden Bebauung des Neumarkts auf die Wunden der eigenen Geschichte gelegt, der seitdem von der «Gesellschaft Historischer Neumarkt» begleitet und vorangetrieben wird.
Inzwischen wuchern die historisierend kostümierten Bauten des Neumarkts immer weiter in den Stadtraum hinein. Und so stossen Geschichte und Gegenwart an der Wilsdruffer Strasse, gleich hinter dem Neumarkt, unmittelbar aufeinander. Zu DDR-Zeiten entstand dort eine repräsentative sozialistische Magistrale für Aufmärsche, flankiert von Wohn- und Geschäftsbauten im Duktus einer moderaten Nachkriegsmoderne. Zusammen mit dem Altmarkt und dem 1969 eröffneten Kulturpalast bildet die Wilsdruffer Strasse ein aussagekräftiges städtebauliches Ensemble – doch leider eines, das bis heute nicht in seiner Gesamtheit unter Denkmalschutz steht.
Der Zusammenprall des Neohistorismus am Neumarkt mit den Altbauten der Nachkriegsmoderne bleibt nicht ohne Folgen, stehen sich hier doch zwei unterschiedliche Stadtkonzepte gegenüber. An ihren Schnittstellen entstehen nicht nur stadträumlich unbefriedigende Hinterhofsituationen. Inzwischen sind die Wohnbauten aus der DDR-Zeit auch in ihrer Substanz bedroht. So wäre ein Wiederaufbau des alten, kriegszerstörten Hotels «Stadt Rom» nur um den Preis von Abbrüchen an der Wilsdruffer Strasse möglich.
Wie verhärtet die Fronten zwischen Vertretern von Tradition und Moderne sind, hat der Streit um den Wiederaufbau des Gewandhauses am Neumarkt gezeigt: Der preisgekrönte Entwurf von Peter Cheret und Jelena Bozic aus Stuttgart wurde 2010 per Stadtratsbeschluss wieder gekippt, die Stadt knickte vor den Gegnern des qualitätvollen Entwurfs ein. Nun soll das nächste «modernistische» Projekt am Neumarkt verhindert werden, obwohl es architektonisch bei weitem nicht so ambitioniert ist wie der Gewandhausentwurf.
In einem offenen Brief haben sich Dresdner Prominente wie die Musiker Ludwig Güttler und Peter Schreier sowie der Schriftsteller Uwe Tellkamp gegen den Entwurf des Architekturbüros Kupferschmidt für das «Quartier 5» gleich neben dem Kulturpalast ausgesprochen. Dabei bedienen sich die Münchner Architekten keineswegs einer exaltierten Formensprache. Diese kommt eher zurückhaltend daher, mit einer angeschrägten Staffelzone für das Dach seines Quartiers. Doch selbst das ist den Rekonstruktionsfreunden bereits zu viel. Höchst fragwürdig erscheint, dass der Dresdner Bürgerprotest sich auch gegen solche Projekte wendet, die zuvor den gesamten demokratischen Entscheidungsprozess durchlaufen haben. Ist es am Ende nur ein Streit um des Kaisers neue Kleider, der sich am Neumarkt abspielt? Denn egal, ob modern oder traditionell – würde man die Fassadengewänder der neuen Dresdner Architektur lüpfen, so käme darunter die immergleiche graue Betonkonstruktion zum Vorschein.
Doch im Dresdner Zentrum geht es um mehr: Hier stossen mit Moderne und Tradition zwei unterschiedliche Konzepte der europäischen Stadt aufeinander. Ob dabei wirklich qualitätvolle Stadträume gewonnen werden und ob unter den wärmegedämmten Fassaden der wahre Geist des Barocks wohnt, scheint kaum eine Rolle zu spielen. Zu Recht kann man fragen, ob sich die wichtigen städtebaulichen Herausforderungen der Landeshauptstadt tatsächlich am ideologisch überfrachteten Neumarkt ballen. Nur wenige Schritte hinter den Enden der Wilsdruffer Strasse zeigt sich, dass die neu erschaffene Traditionsinsel- Idylle des Neumarkts von einem Meer aus Stadtbrachen umgeben ist. Es ist eine amorphe Mischung aus Parkplätzen und vereinzelten Ruinen, aus verwilderten Gärten und angejahrten Bauzäunen. Auf den weiten Grünflächen scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Auf einmal werden die unterschiedlichen Spuren jener komplexen Stadtgeschichte spürbar, die am Neumarkt von dem alles überblendenden Glanz eines getürkten Barocks übertönt werden.
Seit einiger Zeit beginnen sich diese Innenstadtbrachen langsam zu füllen, entsteht im Umfeld der Musikhochschule neuer hochwertiger Wohnraum. Dresden gilt als gefragter Standort mit steigender Bevölkerungszahl. Doch es wird noch lange dauern, bis die städtischen Bruchstücke räumlich und gestalterisch angemessen miteinander vernetzt
sind.
Ein baukultureller Dialog zwischen den beteiligten Akteuren, wie ihn die «Zeitgenossen» anstreben, wäre dabei hilfreich – ein Dialog, der den nötigen Respekt vor der komplexen Geschichte Dresdens ebenso wahrt wie vor ihrem Trauma und zugleich den Raum für qualitätvolle zeitgenössische Architektur öffnet – auch am Neumarkt.